Durch den wilden Osten Londons

Im East End experimentieren die EinwohnerInnen mit unkonventionellen Kunst- und Wirtschaftsformen und halten damit die offizielle Stadtentwicklung auf. Marco Vanek hat sich umgeschaut.

 

Wer seinen persönlichen alternativen Traum sucht, ist in London East End ganz richtig: Street Art, Vintage Märkte und orientalische Köstlichkeiten locken nicht nur Alt-Hippies, Hipster oder Bobos an. Längst spricht dieses Lebensgefühl auch Menschen mit großbürgerlichen Hintergrund an. 

 

Der Osten Londons war immer schon sozial und wirtschaftlich benachteiligt. Während die Reichen und AufsteigerInnen sicher eher im Westen und Norden ansiedelten, war Whitechapel - wie das Viertel früher hieß - ein Ort des Kommens und Gehens. Nur wer nicht wo anders eine Bleibe fand, musste gezwungener Maßen hier bleiben. Benachteiligt waren die BewohnerInnen hier schon einmal durch die industriellen Abgase, die vom Westen her ins Stadtviertel zogen und Lebensbedingungen noch weiter verschlechterten. Nicht weit vom Hafen entfernt war dieses Viertel immer wieder erste Anlaufstelle für MigrantInnen. Von den Hugenotten, die aus Frankreich fliehen mussten, über die Juden Ost- und Mitteleuropas bis zu den Bangladesh, die sich in den 1970er Jahren hier niederließen. "Hier hat sich immer eine Kultur der Toleranz erhalten", erzählt George, der für Alternative London Stadtspaziergänge führt. Die Einwanderungswellen sieht man auch an der Nutzung der alten Kirche in der Brick Lane an, der zentralen Straße des Viertels. In den 1930er Jahren wurde aus der christlichen Kirche eine Synagoge und seit einigen Jahrzehnten wird sie als Moschee von den BewohnerInnen aus Bangladesch genutzt.

 

Jahrzehntelang war das Viertel abseits des Fokus der Stadtentwicklung. Dass dies kein Nachteil ist, sieht man an den vielfältigen Baustilen. Während einige Straßenzüge weiter sogenannte Stadtentwicklungsprojekte die alte Bausubstanz durch moderne Hochhäuser ersetzen, widersetzen sich BewohnerInneninitiativen zum Teil erfolgreich gegen diese "Entwicklung". Nach Art der Berliner Urban Gardening-Szene werden Brachflächen zwischen Bahntrassen wieder rekultiviert und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Ein gutes Beispiel dafür ist der Nomadic Garden unweit der alten Brauerei Truman. 

 

East End ist auch der Inbegriff für Street Art. Nirgendwo sonst in der Stadt gibt es so viel Kunstwerke auf Hauswänden zu betrachten. Neben Grafiti-Bildern wie sie bei uns auch im öffentlichen Raum sichtbar sind, finden sich hier aufwändig gestaltete Wandbilder. "Je besser sie sind, umso länger bleiben sie erhalten", meint Georg. Er führt uns durch viele Straßen, zeigte uns teils in Eingängen versteckt wunderbare Wandgemälde.

 

Direkt an der Grenze zwischen der City und dem East End zeigt sich dieser Umschwung gerade äußerst plastisch durch die lärmenden Bagger und Bulldozer, die gerade einen alten Straßenzug wegräumen, um Platz zu schaffen für neue Büros und Luxusappartments. Links Richtung City ragen halbfertige Glastürme in die Höhe, rechts in East End sind noch die ursprünglich gebliebenen Geschäftsportale zu sehen, die nach wie vor von KleinhändlerInnen und -Kleingewerbetreibende genutzt werden.

 

Einen Markt gibt es in diesem Viertel  seit dem siebzehnten Jahrhundert; die Markthalle wurde Ende des neunzehnten Jahrhunderts vollendet. Nachdem der ursprüngliche Markt 1991 von hier wegzogen war, übernahmen in Spitalfields die HändlerInnen der alternativen Szene – Bio-Lebensmittel, Mode und Kleinkunst – das Marktgeschehen. Noch halten sie hier aus, in der Dank dem Denkmalschutz von den Bulldozern verschonten alten Marktgebäudes.