Warum Italiens Kleinstädte ihre Identität verlieren
Das Herz Italiens ist in Gefahr, schrieb kürzlich der italienische Politikwissenschafter Marco Damiani, als er den Strukturwandel in den kleineren Städten unter die Lupe nahm.
So wie viele andere Kleinstädte in Mittelitalien ist Spello eine wunderschöne Stadt. So liegt die Altstadt auf einem Hügel, rundherum gepflegte Kulturlandschaft. Doch auch diese Stadt ist, ähnlich wie Rom, Florenz oder Venedig, in ihrer jahrhundertealten Identität gefährdet.
Ihre Zerbrechlichkeit macht sie schön, schreibt Damiani, aber ihre Schönheit muss ständig gepflegt und gehegt werden. Doch seit ein paar Jahrzehnten ziehen immer mehr Menschen aus diesen Städten weg. Sie versuchen ihr Glück im Ausland und kommen nur mehr zu den Hochfesten wie Weihnachten, Ostern zurück. Einen zweiten Grund für die Abwanderung sieht Damiani in der zunehmenden Bequemlichkeit seiner BewohnerInnen. Schon in den 60er Jahren haben die ersten ihre alten Häuser im Stadtzentrum verlassen, um am Stadtrand neue Behausungen zu bauen. Die alten Häuser liegen meist am Hügel, sind mit dem Auto meist nicht zu erreichen, es gibt keine Garagen, keine Gärten bei den Häusern, oft auch kein fließendes Wasser. Die alten Steinhäuser liegen weit weg von Einkaufszentren, die in den letzten Jahrzehnten wegen der vielen Vorstadtsiedlungen dorthin gebaut wurden.
In den letzten Jahren kam noch ein weiterer Trend dazu, der die Abwanderung beschleunigte. Die Tourismusindustrie sucht laufend neue Verwertungsmöglichkeiten und zerstört dabei jene Schätze, von der sie eigentlich profitieren möchte. Sobald die einheimischen BewohnerInnen aus den alten Steinhäusern ausgezogen sind, kommen die Makler und vermitteln sie an kaufkräftige Kundschaft aus Nordamerika oder Westeuropa. Die Preise schießen in die Höhe, was dazu führt, dass Einheimische nun tatsächlich gute Gründe haben, die Stadtzentren zu verlassen. Der Teufelskreis setzt sich weiter fort: die Geschäfte für den täglichen Bedarf sperren zu, Souvenir- und Kunsthandwerksläden übernehmen die alten Geschäftslokale. Schön langsam fühlen sich die Einheimischen in ihrer eigenen Stadt als Gäste, wenn sie außer Wasserflaschen und etwa den sündteuren Wurstspezialitäten nichts mehr finden, was sie für den Alltag brauchen.
In vielen dieser Städte gab es schließlich Debatten in den Gemeinderäten, ob nicht auch Schulen, Kindergärten, die Gemeindeverwaltungen und andere öffentliche Einrichtungen aus der Altstadt abgesiedelt werden sollen, weil nun die Wohnquartiere der meisten BewohnerInnen außerhalb des alten Stadtzentrums liegen.
Alle diese Entwicklungen bedeuten für Damiani, dass ein alter, lebendiger, genutzter und abgenutzter Organismus, ein komplexes, künstlerisches Gebilde auf eine rein kommerzielle und akademische Dimension reduziert wird. Davon profitieren aber nicht viele. Die, die dort noch Stellung halten, haben von diesen Entwicklungen am wenigsten davon. Sie bieten höchstens kostenlose Staffage fürs Business.
Diese Entwicklung wird sich solange fortsetzen, bis der Marktlogik ein politischer Veränderungswille gegenübergestellt wird, ist Damiani überzeugt. Wenn es so weitergeht, wird der Reichtum der kleinen Städte nur mehr wenigen zur Verfügung stehen, die sich diesen kulturellen Schatz gönnen. Dann finden in diesen Städten keine realen Begegnungen mehr statt. Statt Lebensorten wird es Geisterstädte geben.
Reiche aus dem Norden renovieren zwar die historische Substanz in den Zentren der italienischen Kleinstädte. Doch diese entwickeln sich aber schön langsam in Geisterstädte ohne Leben
Kann ein nachhaltiger, ein sanfter Tourismus diese Zerstörung der jahrhundertealten Kultur stoppen? Für Damiani liegt es an den Stadtverwaltungen, sich aktiv in die Entwicklungen einzuschalten und die Transformation selbst zu gestalten. Die BesucherInnen müssen zur Ressource für die Mehrheit der Autochthonen werden und dürfen nicht zu ihrer Verdrängung führen. Skeptisch ist Damiani, ob die zurzeit herrschende politische Klasse es schafft, diesen zerstörerischen Entwicklungen einen Riegel vorzuschieben.
Zu Marco Damiani: geboren 1973, lehrt Politikwissenschaften an der universität Perugia. Er forscht zu Parteien, zum Populismusbegriff und vor allem zu den linken Gruppierungen in Europa. Der Beitrag in voller Länger, erschienen am 23.7.19 in der taz.
Zu Spello: die Kleinstadt in Umbrien liegt etwa 30km von Perugia entfernt, hatte 2017 im ganzen Stadtgebiet etwa 8500 EinwohnerInnen, in den historischen Teilen wohnten gerade noch 500 Menschen. Die Stadt ist Mitglied der Vereinigung I borghi più belli d’Italia (Die schönsten Orte Italiens).
Text: Marco Vanek