Durch Venedigs stillste insel
Insel der Verbannten, Garten-Insel der Aristokraten, Insel der Arbeiter und Bauern.... Die Isola della Guidecca hat viele Namen. Hier liegen auch die Suburbs der Stadt, viele der reicheren VenezianerInnen haben früher diese Insel gemieden. Ihren melancholischen Charme der vergangenen Zeit hat sie aber bis heute bewahrt, trotz Spekulationsversuchen.
Der Rummel am Markusplatz ist außer Hörweite, das Gewurrle abertausender BesucherInnen in Umrissen aber erkennbar. Nur einige hundert Luftmeter
sind es über den Canale della Guidecca bis zum Markusdom. Doch diese Entfernung ist weit genug, um im Schatten des Touristenstroms zu bleiben. Hier auf der
kleinen Insel gibt es noch das Venedig, wie es sich vor 30, 40 Jahren in der gesamten Stadt anfühlte: ein Stadtteil mit vielen kleinen Läden, die die BewohnerInnen mit alltäglichen Gütern versorgen, sozialer Wohnbau, der die Mieten in bezahlbaren Höhen belässt, oder kleine vom Eigentümer selbst
betriebene Trattorien, die sich nach Rechnungslegung nicht als Touristenfalle entpuppen.
Guidecca hat eine leicht elektrisierende Anziehung, ist ein Kleinod mit einem wilden Mix aus verschiedenen Epochen und Stilen. Seien es alte herrschaftliche Villen, oder gesichtslose Zweckbauten am Campo Junghans, die von manchen auch Bausünde genannt werden. Viel ist passiert in den letzten fünfzig Jahren, schreibt Tom Schulz in der NZZ, der 2018 für drei Monate Stipendiat am Deutschen Studienzentrum in Venedig war. „Der Niedergang der ansässigen Industrie und des Handwerks, eine teilweise skrupellose Stadtplanung und manches andere, das in jedem Mafiaroman vorkommen könnte. Wie löst man ein Problem? Man zündet das Streitobjekt an und kann sich danach nicht mehr erinnern, wie es dazu kam. So geschehen mit dem Teatro La Fenice im Jahre 1996. Wenig später mit der ehemaligen Molino Stucky, der nach einem gescheiterten spekulativen Immobilienprojekt zum großen Teil zerstört wurde, wahrscheinlich
ebenfalls durch Brandstiftung. Um danach, befreit von denkmalpflegerischen Auflagen, zu einem Fünfsternehotel ausgebaut zu werden.“
Die Guidecca ist heute, schreibt Tom Schulz, „ein Behauptungszustand zwischen Spekulationsobjekt und dem inneren Zusammenhalt ihrer Bewohnerinnen und Bewohner. „Diese leben zum Teil in Sozialbauten aus den 1960er und 1970er Jahren. Jeder kennt jeden, die alte Sage vom kleinen Platz lebt mit Bänken unter Bäumen, wo sich Nachbarn begegnen, von ihren Sorgen sprechen, vielleicht auch von Liebe. Wo man dem Älteren und Gebrechlicheren die Einkaufstasche in die Wohnung hinaufträgt…“.
Doch auch auf der Guidecca werden neue Eigentumswohnungen an mehreren Orten gebaut. Auch hier beginnen sich die BewohnerInnen zu wehren gegen den spekulativen Leerstand, protestieren gegen die Airbnbsierung der Stadt, die aus Wohnraum noch mehr Touristenunterkünfte macht. Vor einigen Jahren besetzten AktivistInnen leerstehende Häuser und belebten ihr Quartier mit kleinen urbanen Gärten.
Die Guidecca ist nicht das Postkarten-Venedig, von dem täglich x-tausende Fotos gemacht werden, resümiert Schulz. „Sie ist Konflikt- und Resonanzraum. Hier werden Lösungen gesucht, die das Leben einer Gesellschaft wieder mehr als menschliche Gemeinschaft begreifen. Werden sie gefunden, wird es entscheidend sein für die Zukunft der kleinen Insel.“
Wir besuchten Venedig im Oktober 2018 und nahmen dabei seine Architektur des 20. und 21. Jahrhunderts unter die Lupe. Herta Gurtner stellte die Reise zusammen und führte uns durch unbekannte Ecken der Lagunenstadt.
Über die Guidecca meinte sie: "La Giudecca, die frühere ArbeiterInneninsel Venedigs überrascht durch ihre Vielfältigkeit. Wo früher Brauereien, Mühlen und kleine Fabriken vorherrschten, wurden diese in den letzten Jahren zu Nobelhotels, Wohnungen und Ateliers umgebaut. Durch Neubauten in den 1990er und 2000er Jahren, die teilweise als Sozialwohnungen gewidmet sind, können sich hier einheimische Familien das Leben in Venedig leisten. Kindergärten, Spielplätze und Schulen finden sich auf der Giudecca ebenso wie ein Frauengefängnis und das Luigi Nono Archivo.
Natürlich ist auch auf der Giudecca die Gefahr der Gentrifizierung und Vermietung durch Airbnbsierung gegeben. Die BewohnerInnen wehren sich dagegen ebenso wie gegen die großen Kreuzfahrtschiffe. Es liegt aber an der Stadtpolitik hier Maßnahmen zu treffen und Maßstäbe für ein gutes Leben der VenezianerInnen zu setzen. Leider bisher ohne viel Ambition.
Text und Fotos: Marco Vanek